Katjuscha auf Hebräisch

200 Meter von der Rückseite des Parlaments entfernt beginnt die Gstättn. Kleine Gassen, von Menschenhand gezogene Wagen mit Zwiebeln drauf, Kinder, die auf einem Stück Gehsteig eislaufen wo ein öffentlicher Hahn Wasser spendet. Dann ein kleines Häuschen, ein Tor, ein Hund, ein Innenhof mit Wäsche auf der Leine, Hühner vom Nachbarn, die bei Minusgraden herumflattern. Kolja der 19jährige Bodybuilder wohnt hier mit seiner Mutter, dem Vater und der Babuschka. Die Oma nimmt uns gleich lauthals in Beschlag, zeigt uns ein altes Foto mit ihren Großeltern und Eltern und erzählt eine Geschichte, warum dieses Foto etwas mit Österreich zu tun hat. Welche Geschichte erfahren wir allerdings nicht, denn Andrey übersetzt nicht.
Koljas Mutter ist wie die Babuschka ein hyperenergetische kleine Frau, die ständig um ihren Sohn herumtänzelt, ihn anblinzelt und übers Haar streicht. Die Oma serviert uns eine köstliche russische Schwammerlsuppe, der Vater schweigt, wir löffeln brav. Dann noch Tee und selbstgemachte Marmeladetaschen, auch lecker. Die Mutter ist stolz: Kolja studiert Physik und Mathematik, er geht drei mal die Woche trainieren und macht ein Praktikum bei der transnistrischen Telekom. Er mache keinen Unsinn und sei ein braver Sohn.
20 junge Männer waren vor einigen Tagen beim Body builden. Kolja war offen, wir waren es auch. Schon nach wenigen Sekunden war mir klar, dass er unsere Geschichte sein würde. Kolja machte seine erste Medaille und war begeistert, auch noch vom österreichischen Filmteam als Held auserkoren worden zu sein. Mehr als er sich zu träumen erwartet hatte. Und auch wir bekommen mehr. Wir haben eine unerhört respektable Familie kennen gelernt. Arme Menschen, die mit uns teilen, die sich uns und auch der Kamera öffnen. Wir leben sehr bescheiden, sagt die Mutter, aber wir sind glücklich. Russen sind hart ihm Nehmen. Wie so mancher Haushalt gibt es keine Toilette im Haus. Bei Koljas Familie ist es ein gemauertes Plumpsklo im Hof. Eiskristalle an den Wänden, richtige Eiszapfen von der Decke. Russen sind härter. Neben dem Klo ist ein Aschenbecher für den Vater montiert, der auch im Winter gut gefüllt ist. Auch in der Küche gibt es kein fließend Wasser. Über der Abwasch hängt ein Zweiliterplastikbehälter, an der Unterseite eine Vorrichtung die Wasser herauslässt, sobald man draufdrückt. So wie Mineralwasserflaschen mit Verschluss für Sportler. Und all dies in der Hauptstadt eines europäischen Landes, keine 200 Meter vom
Parlament entfernt. Einen halben Kilometer vom Ärzte ohne Grenzen Haus, das im Vergleich purer und kaum nachvollziehbarer Luxus darstellt.
Transnistrien ist in einer permanenten Krise und die globale Finanzkrise machts noch schlimmer. Es gibt in Koljas Haus einen schönen Keller, in dem normalerweise eingelegtes Gemüse reift. Doch durch die Krise konnte sich die Familie die Zutaten nicht mehr leisten. Dafür wird viel in Koljas Bildung und Träume investiert. Sein größter Traum ist es, einmal nach Kalifornien zu fahren und seinem Idol, Arnold Schwarzenegger die Hand zu schütteln. Die steirische Eiche stehe für die Erfüllbarkeit der Träume. Arnold sei derjenige gewesen, der seinen Körper am besten definiert habe, er sei ein toller Schauspieler und auch noch Gouverneur von Kalifornien geworden. Auch wenn Kolja seine politischen Qualitäten nicht zu bewerten können glaubt. Er ist mit seinen 19 Jahren ausgesprochen reflektiert. Er spricht von dem Widerspruch, dass es beim Definieren des eigenen Körpers nur um einen selbst gehe, man aber dennoch von Fremden bei einem Wettkampf bewertet würde. Und auch von dem Widerspruch, dass es ihn freut, wenn die Mädchen seinen Körper mögen, er aber nicht darauf reduziert werden möchte. Dazu fühle er sich als Pridnestrowier, vor allem, weil es hier einen Krieg gab. Er hoffe natürlich, dass sich dies nicht wiederhole. Wenn doch, so würde er seine Heimat verteidigen.
Nach einem langen Kamerainterview gehen wir zurück in das Wohnzimmer, wo es schon wieder gutes Essen gibt, Kartoffelpüree, faschierte Leibchen und Krautsalat. Zum Tee kommt die Nachbarstochter vorbei und bekommt auch einen Teller. Sie heißt Lisa und ist viereinhalb Jahre alt. Ihre Eltern sind vor Jahren nach Israel gezogen, dort wurde Lisa geboren. Mittlerweile wohnt sie bei den Großeltern in Tiraspol, die Eltern werden bald
nachziehen. Koljas Mutter schenkt ihr Tee ein und fragt sie, ob sie Honig oder Zucker dazu möchte. Das rothaarige Mädchen blickt vom Teller auf und sagt: „Ich will jetzt feiern, es ist ganz mir egal, ob es Zucker oder Honig ist.“
Bevor sie geht, stellt sie sich auf einen Stuhl und singt herzerweichend das klassische russische Lied Katjuscha. Mama Kolja und Babuschka sitzen daneben, halten ihre Hand und schunkeln mit den Köpfen.

 

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