Unterwegs mit Anatol

Zwei Tage später sind wir wieder auf der Datscha. Diesmal zu Fuss. Wir fahren mit dem Trolleybus nach Sapatny  (Tiraspol-West), Anatol braucht als Pensionst kein Ticket zu bezahlen. Ich zahle 1.40 Rubel (10 Eurocent) bei der Ticketfrau.

Bum, Ratatata. Anatol ist wieder auf der Datscha. Vom nahegelegenen Truppenübungsplatz schallt der inszenierte Krieg der pridnestrowischen Armee. Am frühen Vormittag verdampfen die Gemüsefelder der schwarzen Erde unter der Sonne die Feuchtigkeit des vorgestrigen Regens. So beginnt der Frühling in Pridnestrowien, sagt Anatol.

Unterwegs mit Anatol

Wir pflanzen Petersil – “Petruschka” -, dieser ist zweijährig, und Dill und Senf, natürlich vom selbst gezogenen Saatgut. Die Furche wird bloss mit der Harke gezogen. Petersil und Dill kann man ruhig grosszügig aussähen, bei  Senf sollte man verhalten sein, der wuchert.

Die Entwestlichung des Geruchs

1215_08+Man möge sich natürlich von allzu grober Verallgemeinerung schützen. Dennoch möchte ich behaupten, dass Länder, Orte, Gemeinschaften, Wohnungen, Menschen eigene Gerüche haben. Das Österreich anders riecht als Nepal. Das mag an vielfältigen Faktoren liegen. Klima, Industrialisierungsgrad, öffentliche Hygiene. Dann im Kleinen die Kochgewohnheiten, Zugang zu warmen Wasser und Waschmittel.
Ich bin nun ein Mensch mit ausgeprägtem Geruchssinn. Es ist nach meiner Erläuterung nichts ungewöhnliches, dass Tiraspol anders riecht als Wien. Vor allem kräftiger. Die Erkenntnis des heutigen Morgens liegt darin, dass über die Tage und Wochen mein Geruchssinn russifiziert wird. Aber von Anfang an: Fahrt nach Tiraspol. Und Tiraspol könnte auch Bukarest oder Sofia heißen. Viele alte Autos blasen schlecht verarbeitetes Benzin aus und legen einen dumpfen Bleigeschmack als Smog ab. Die Industrieanlagen am Stadtrand sind ebenso ungefiltert wie viele Zigaretten. Von letzteren schmecken die teureren nach Westtabak, die billigen riechen süßlich abgestanden wie fauliger Wein. Von der viel zu Nahe gelegenen offenen Müllkippe stinkt der ungetrennte Müll der Stadt entgegen. Vor den Hausanlagen türmt sich, vor allem zur Weihnachtszeit, der Abfall links und rechts von den großen, offenen Containern. Bester Ort, um Katzen zu sehen.
In manchen Hausanlagen ist ein Abfallsystem integriert. Bewohner öffnet Wohnungstür, tritt auf den Gang, öffnet die Luke einer Röhre, die vom obersten Stock in den Keller führt und wirft den Müll einfach hinein. Ich hab mir noch nie angesehen, wo der dann hinkommt. Vielleicht einfach so in den Keller?
Die Transnistrier kochen gern kräftig. Mit billigem Fett in alten Pfannen. Vor allem im Winter wird eher ungern gelüftet. Schließlich lässt sich in vielen Haushalten die Heizung nicht regulieren. Offenes Fenster heißt ganz einfach ein unwiderbringlicher Verlust an Wärme. Ähnliches trifft auf die persönliche Hygiene zu. Andrey ist beispielsweise dank der Jobs mit den vielen Westlern schon zum kleinen Kapitalisten aufgestiegen. Er hat Jalousien gekauft, die ein wenig Wärme speichern. Er hat die Wasserleitungen sanieren lassen, sodass es jetzt fließendes warmes Wasser gibt und selbiges nicht mehr stinkt wie Pest. Und als Krönung und zur Freude seiner Freundin hat er auch noch eine Waschmaschine gekauft. Er selbst kann sie zwar nicht bedienen, aber Jana kann es. Vielen Menschen fehlt dieser Luxus. Da wird gespart. Da wird nicht täglich geduscht, da wird die Unterwäsche nicht täglich gewechselt und die Hose auch nicht nach vier Tagen. Andrey beispielsweise läuft seit unserer Ankunft vor 15 Tagen mit dem von uns geschenkten Austria-T-Shirt herum. Mensch riecht.
Jetzt könnte man meinen, das sei doch bei uns vor 30 oder 40 Jahren genauso gewesen. Und man hätte sicher recht damit. Transnistrischer Geruch sagt auch weniger über Transnistrien aus, als darüber, wie steril die Umwelt bei uns zu Hause geworden ist.
So ist der Höhepunkt die Fahrt mit dem Bus, einer alten Benzindreckschleuder, eingepfercht mit jenen Menschen, die mangels Möglichkeit mit Wochenschweiss, Monatskleidung, Zigarettendampf, Zwiebel-, Knoblauch-, Fischgeruch und intensiven Alkoholausdünstungen auf die westlich geprägte Nase treffen.
Doch ich schreibe das eigentlich nur aus der Erinnerung. Schließlich gewöhnt man sich ja an alles. Schlimmer noch, man passt sich an. Als ich mich gestern unter die Dusche gestellt habe, viel mir auf, dass ich stärker rieche, als in Wien. Alkohol, Fett, oftmals getragene Kleidung, Umgebungsgeruch. Mein Körper nimmt auf und gibt ab. Sollte ich also auf dem besten Weg sein, Transnistrier zu werden?

Russische Suppe

Gestern haben wir einen wunderschönen Tag mit dem Jungbodybuilder und seiner Familie verbracht. Zuerst waren wir mit Kolja und seiner Mutter am Markt und haben Lebensmittel eingekauft.

Nach dem Einkauf geht’s zu Koljas. Sie haben eine recht kleine Küche, in der Mutter und Vater gemeinsam vor der Kamera eine russische Pilzsuppe und faschierte Leibchen kochen. Kramar und Andrey als Tonmann zwängen sich dazu, für eine Weile auch Kolja und ich. Die Eltern sind ein Hit, kochen mit Jamie Oliver ist langweilig dagegen. Die Mutter hüpft zirpend herum, erzählt Geschichten und ist bester Laune. Der Vater rührt um und gibt gelegentlich ein Brummen von sich. Schnell werden noch zwei Fische herausgebraten und wir speisen im Wohnzimmer königlich, gut versorgt mit prickelndem Hauswein und Kognak. Zum Nachtisch werden süße Blintschiki, Palatschinken mit Topfenfüllung und Tee gereicht. So haben wir den gesamten Tag mit dieser feinen Familie verbracht, die sich über unsere Anwesenheit mindestens ebenso freut, wie wir über die ihrige.
Heute haben wir entschlossen, das Andrey’sche Heim zu verlassen und ins Hotel zu ziehen. Der Familienwahnsinn war nicht mehr auszuhalten und das Schlafdefizit wurde immer größer. Schnell noch ein Pflichttermin von Präsident Smirnow abgefilmt. Theater, Kinder feiern Weihnachten, laute Musik und aufgedonnerte sechsjährige Mädchen, die Madonna auf Techno machen. Dann El Presidente, der selig den Weihnachtsonkel macht. Dann mittelmäßig essen gehen, dann zu Andrey, Sachen packen und ab ins Taxi.

Ksjuscha vs. Julia

5Halleluja, es gibt Momente, da möchte man in den Boden versinken. Nachdem man der schuldigen Person eine Bratpfanne über den Schädel gezogen hat. Der gute, junge Andrey hat eine Beziehung zu einer Frau, Julia. Sie war auf der Uni seine Deutschlehrerin. Alles halb so wild. Er ist 27 und sie 32. Ich weiss nicht, wie die das hier machen. Andrey ist 27 und lehrt mittlerweile selbst auf der Uni, ist also Kollege seiner Freundin. Und viel besser in Deutsch. Die beiden haben, sagen wir mal eine etwas schwierige Beziehung. Ich kann nicht sehr viel über sie aus erster Hand sagen, habe ich sie doch erst ein paar Mal gesehen. Was ich jedoch seit Sommer mitbekomme ist, dass Andrey ständig klagt, sie sei Besitzergreifend, cholerisch, hysterisch, habe Putzmanien (was man vielleicht ob Andreys eigener Wohnung eher relativ sehen sollte) und so weiter. Sie brauche ständige Aufmerksamkeit und mache ihm jedes Mal, wenn er mit mir oder Martin unterwegs ist, Vorwürfe, er würde sie alleine lassen.
Als ich kam, war er grad dabei, seine Sachen aus ihrer Wohnung zu holen und wieder zu Hause zu schlafen. Um ein Exempel zu statuieren (so würde Andrey es ausdrücken) verbrachte er die Tage nicht mit ihr. Sondern mit seinem besten Freund Vovan und mir! Daraufhin sei sie zu Kreuze gekrochen und sie haben sich wieder vertragen, er hat seine Sachen wieder zu ihr transportiert (er hat sichtlich Routine darin). Die Situation plagt Andrey sichtlich, weil er fast jeden Tag davon spricht und mir (eher sich) einredet, er sei ihrer müde. Es gibt nahezu täglich Streit und Versöhnung. Nach anderthalb Jahren Beziehung. Soweit die Vorgeschichte.
Andrey hat mich einer Freundin aus Kindertagen vorgestellt. Oksana ist Mitglied eines Volkstanzkollektivs, sie ist leidenschaftliche Tänzerin und vertritt noch leidenschaftlicher die Ansicht, die Kultur der früheren Generation den Menschen im Hier und Jetzt beizubringen. Sie leitet nebenbei Kindertanzgruppen. Ich kannte sie schon vom Radio PMR Buch her. Das Gespräch mit Andrey als Simultanübersetzer war ausgezeichnet, sie hatte viel interessantes zu erzählen. Soweit zur Vorgeschichte.

Wie gesagt, Oksana ist eine Jugendfreundin von Andrey, sie haben einen spielerisch intimen Zugang zueinander (vor allem sie zu ihm). Gelegentlich kam mir der Gedanke, dass wenn sie Bruder und Schwester wären, dass Inzucht in der Luft läge. Aber Andrey versicherte mir immer, dies sei nur Spaß. Soweit zur Vorgeschichte.
Gestern Abend besuchten Andrey und ich eine Probe ihres Tanzensembles. 20 junge Menschen in hauptsächlich dunkler Ballett oder Sportkleidung, die in einem schlechtbeleuchteten Saal in einem Theater probten. Am Klavier saß ein älterer, desinteressiert auf die Tasten schielender Mann mit Halbglatze und einem Streifen Haare über die Stirn, die versuchten, die Platte zu verdecken. Überraschenderweise lud uns Oksana für diesen Abend zum Essen bei sich und ihren Eltern ein. Große Freude, es würde nach moldauischer Tradition Mamaliga (Polenta) geben. Großes Problem. Andrey wusste, dass wenn er allein mit mir dorthin gehen würde, dann wäre er des ewigen Zorns seiner Julia gewiss. Grund: „wie kannst du nur am Abend mit Marcell arbeiten. Achtet er denn gar nicht auf deine Wünsche?“. Also überlegte Andrey, dass er sie mitnimmt. Er ruft an. Sie zetert: „Was so spät (halb neun) sollen wir ausgehen? Wie kannst du nur am Abend mit Marcell die Zeit verbingen. Achtet er denn gar nicht auf deine Wünsche?“. So fuhr Andrey während der Proben nach Hause, überredete Julia und kam mit ihr zum Theater. Soweit zur Vorgeschichte.
So ein Theater. Ich glaube, man kann sich vorstellen, wie nett der Abend war. Wir wurden aufs herzlichste empfangen, es gab Hauswein, lauter leckere Speisen und davon so viel dass wir platzen. Julia aß nichts, weil es nach sechs Uhr ungesund sei. Die beiden Frauen, ein Blick, unverholene gegenseitige Abscheu. Julia nutzte ihre sprachliche Überlegenheit gegenüber Oksana und redete in überlauten Ton auf Deutsch mit mir. Oksana, die ansonsten voller Energie und Lebensfreude sprühte, wurde immer ruhiger. Nach einer Weile war der Wein aus und Julia schickte Andrey zum Laden. Ich meinte, ich würde gehen, damit er vor Ort die Sache unter Kontrolle halten würde. Julia zwang Andrey, mit mir zu gehen. So blieben die beiden Frauen allein in der Küche. Wir kamen zurück, alles schien normal. Ich fing dann, Oksana noch ein paar Fragen zu stellen, für das Portrait.
Irgendwann bin ich nur mal kurz aufs Klo gegangen und als ich zurückkam, waren Julia und Oksana in einer lautstarken Diskussion. Als es schon zu spät war, konnte ich mir aus dem Kontext zusammenreimen, dass Julia Oksana gesagt hat, dass ihr Tanzkollektiv ein Leienorchester sei, dass für Omas und Opas im Heim herumhüpfen würde. Julias Monolog dauerte ein paar Minuten, der vorige Satz ist die kürzest mögliche Zusammenfassung. Nachdem ich das Ausmaß begriffen hatte, und Oksana mit den Tränen kämpfte meinte ich, dass hier sei jetzt gar nicht mehr nett und dass wir doch bitte gehen sollten. Noch am Tisch verkündete Julia auf Deutsch, dass sie diese Frau nicht mag (wer kanns ihr verdenken, sie ist ja auch netter), dass sie diesen Abend nicht wollte und dass dies jetzt das Ergebnis sei. Dies war das Ende eines dramatischen Abends.

Katjuscha auf Hebräisch

200 Meter von der Rückseite des Parlaments entfernt beginnt die Gstättn. Kleine Gassen, von Menschenhand gezogene Wagen mit Zwiebeln drauf, Kinder, die auf einem Stück Gehsteig eislaufen wo ein öffentlicher Hahn Wasser spendet. Dann ein kleines Häuschen, ein Tor, ein Hund, ein Innenhof mit Wäsche auf der Leine, Hühner vom Nachbarn, die bei Minusgraden herumflattern. Kolja der 19jährige Bodybuilder wohnt hier mit seiner Mutter, dem Vater und der Babuschka. Die Oma nimmt uns gleich lauthals in Beschlag, zeigt uns ein altes Foto mit ihren Großeltern und Eltern und erzählt eine Geschichte, warum dieses Foto etwas mit Österreich zu tun hat. Welche Geschichte erfahren wir allerdings nicht, denn Andrey übersetzt nicht.
Koljas Mutter ist wie die Babuschka ein hyperenergetische kleine Frau, die ständig um ihren Sohn herumtänzelt, ihn anblinzelt und übers Haar streicht. Die Oma serviert uns eine köstliche russische Schwammerlsuppe, der Vater schweigt, wir löffeln brav. Dann noch Tee und selbstgemachte Marmeladetaschen, auch lecker. Die Mutter ist stolz: Kolja studiert Physik und Mathematik, er geht drei mal die Woche trainieren und macht ein Praktikum bei der transnistrischen Telekom. Er mache keinen Unsinn und sei ein braver Sohn.
20 junge Männer waren vor einigen Tagen beim Body builden. Kolja war offen, wir waren es auch. Schon nach wenigen Sekunden war mir klar, dass er unsere Geschichte sein würde. Kolja machte seine erste Medaille und war begeistert, auch noch vom österreichischen Filmteam als Held auserkoren worden zu sein. Mehr als er sich zu träumen erwartet hatte. Und auch wir bekommen mehr. Wir haben eine unerhört respektable Familie kennen gelernt. Arme Menschen, die mit uns teilen, die sich uns und auch der Kamera öffnen. Wir leben sehr bescheiden, sagt die Mutter, aber wir sind glücklich. Russen sind hart ihm Nehmen. Wie so mancher Haushalt gibt es keine Toilette im Haus. Bei Koljas Familie ist es ein gemauertes Plumpsklo im Hof. Eiskristalle an den Wänden, richtige Eiszapfen von der Decke. Russen sind härter. Neben dem Klo ist ein Aschenbecher für den Vater montiert, der auch im Winter gut gefüllt ist. Auch in der Küche gibt es kein fließend Wasser. Über der Abwasch hängt ein Zweiliterplastikbehälter, an der Unterseite eine Vorrichtung die Wasser herauslässt, sobald man draufdrückt. So wie Mineralwasserflaschen mit Verschluss für Sportler. Und all dies in der Hauptstadt eines europäischen Landes, keine 200 Meter vom
Parlament entfernt. Einen halben Kilometer vom Ärzte ohne Grenzen Haus, das im Vergleich purer und kaum nachvollziehbarer Luxus darstellt.
Transnistrien ist in einer permanenten Krise und die globale Finanzkrise machts noch schlimmer. Es gibt in Koljas Haus einen schönen Keller, in dem normalerweise eingelegtes Gemüse reift. Doch durch die Krise konnte sich die Familie die Zutaten nicht mehr leisten. Dafür wird viel in Koljas Bildung und Träume investiert. Sein größter Traum ist es, einmal nach Kalifornien zu fahren und seinem Idol, Arnold Schwarzenegger die Hand zu schütteln. Die steirische Eiche stehe für die Erfüllbarkeit der Träume. Arnold sei derjenige gewesen, der seinen Körper am besten definiert habe, er sei ein toller Schauspieler und auch noch Gouverneur von Kalifornien geworden. Auch wenn Kolja seine politischen Qualitäten nicht zu bewerten können glaubt. Er ist mit seinen 19 Jahren ausgesprochen reflektiert. Er spricht von dem Widerspruch, dass es beim Definieren des eigenen Körpers nur um einen selbst gehe, man aber dennoch von Fremden bei einem Wettkampf bewertet würde. Und auch von dem Widerspruch, dass es ihn freut, wenn die Mädchen seinen Körper mögen, er aber nicht darauf reduziert werden möchte. Dazu fühle er sich als Pridnestrowier, vor allem, weil es hier einen Krieg gab. Er hoffe natürlich, dass sich dies nicht wiederhole. Wenn doch, so würde er seine Heimat verteidigen.
Nach einem langen Kamerainterview gehen wir zurück in das Wohnzimmer, wo es schon wieder gutes Essen gibt, Kartoffelpüree, faschierte Leibchen und Krautsalat. Zum Tee kommt die Nachbarstochter vorbei und bekommt auch einen Teller. Sie heißt Lisa und ist viereinhalb Jahre alt. Ihre Eltern sind vor Jahren nach Israel gezogen, dort wurde Lisa geboren. Mittlerweile wohnt sie bei den Großeltern in Tiraspol, die Eltern werden bald
nachziehen. Koljas Mutter schenkt ihr Tee ein und fragt sie, ob sie Honig oder Zucker dazu möchte. Das rothaarige Mädchen blickt vom Teller auf und sagt: „Ich will jetzt feiern, es ist ganz mir egal, ob es Zucker oder Honig ist.“
Bevor sie geht, stellt sie sich auf einen Stuhl und singt herzerweichend das klassische russische Lied Katjuscha. Mama Kolja und Babuschka sitzen daneben, halten ihre Hand und schunkeln mit den Köpfen.

 

Full house

Wir sind in einem sozialen Verband integriert, der enger und größer ist, als ich es aus meinem eigenen Leben kenne. Im großen Zimmer leben Andrey und seine Freundin Jana. Sie streiten des öfteren, Andrey spielt den Verantwortungsbewussten, der zur Besonnenheit aufruft, Jana antwortet mit metaphorischem Zungezeigen. Was bei ihr heißt, Abends eindeutig zu viel Bier zu trinken, zu rauchen und vor dem Schlafengehen dann ganz zart herumzubrüllen, zu weinen und trotzig zu sein.
Ich habe das zweite Zimmer in Beschlag genommen, ein schiefes Sofa mit für Andreys Verhältnisse relativ frischer Bettwäsche. Dazu eine kleine Kommode, auf welcher der Laptop steht, an dem in den zeitlichen Zwischenräumen das Material schneide. Kramar schläft am Balkon. Natürlich nicht im Freien, der Balkon ist geschlossen. Dennoch ist es dort saukalt, aber ihm gefällts. Er schläft neben den Kübeln voller Brunnenwasser, den eingelegten Tomaten und der aufgehängten Wäsche. Neben mir ist Anton, Andreys Bruder. Seit vorgestern wird der Fernseher ständig zwischen großem und Antons Zimmer hin und hergetragen. Anton ist 18, er muss von seinem Vater jeden Tag um 7 geweckt werden, weil er sonst nicht lernt. Dafür futtert er den Kühlschrank leer und kümmert sich nicht darum, auch mal für Nachschub zu sorgen. Andrey beschwert sich, dass er sogar seine Unterhosen klaut. Und die, so Andrey, ziehe er dann nicht mehr gerne an. Vorm Waschen.
Vor zwei Tagen ist Nikolaj, der Vater, von einer Reise nach Russland zurückgekommen. Er hat zwar eine eigene Wohnung unweit von hier, aber er ist doch lieber bei seinen Jungs. Was seine Jungs gar nicht so gern haben. Und Jana noch weniger. Nikolaj schläft im Zimmer von Anton. Irgendwie sind alle mit einem guten Schlaf gesegnet. Nächtliche Rücksicht gibt’s
hier nicht. Wenn man nachts um 4 aufs Klo muss, warum nicht eine Arie dabei singen? Morgens um sieben das Radio auf laut stellen, eh klar. Nachts um eins ist es besser, am Gang zu streiten, als im Zimmer. Na, hier ist immer etwas los.

 

Fest bei Vovan

6Ich hatte Vovan schon bei meinem ersten Besuch vor anderthalb Jahren kennen gelernt. Ein netter, ruhiger junger Mann, der gutes Deutsch spricht und den Andrey als seinen besten und innigsten Freund bezeichnet. Nach Beendigung seines Deutschstudiums wurde Vovan im Sommer zum Militärdienst eingezogen. Anders als die meisten Pridnestrowier wurde er nicht in die Armee berufen, sondern als Unteroffizier zum Staatssicherheitsdienst MGB, vormals KGB. Jener Geheimdienst, der ganz ungeheim schon im Vorfeld unserer Besuche bei Andrey anrief und fragte, wann denn die Österreicher wieder kämen und was wir hier zu tun gedachten. Zwei Jahre dauert dieser Dienst. Als Offizier des MGB ist es Vovan untersagt, mit Ausländern Kontakt zu pflegen, wüssten seine Vorgesetzte von meiner Anwesenheit in seiner Wohnung, würde er wohl bestraft werden. „Draußen können wir uns nicht treffen“, meinte Vovan, „aber bei mir zu Hause ist es in Ordnung.“
Ich brachte Vodka und Krimsekt mit und wurde von Vovan, seiner Freundin Aliessa, seiner 30jährigen Schwester Jelena, ihrem Gatten Dima und deren achtjährigen Sohn Slawa herzlich begrüßt. Der Fernseher brachte einen alten russichen Novi-God (Neujahrs-)Klassiker, einen Film über einen Mann aus Moskau, der mit seiner zukünftigen Ehefrau Novi God feiern soll, zuvor noch mit seinen Freunden in der Sauna Vodka trinkt, und anschließend in einer fremden Wohnung einer fremden Frau in Leningrad aufwacht. Sichtlich ziemlich lustig. In Vovans Wohnzimmer blinkten bunte Lichter am mageren Christbaum.  Irgendwann am späteren Abend sang Jelena, die zufälligerweise Deutschlehrerin ist, O Tannenbaum an. (Es gibt kein Entkommen). Der Tisch bog sich unter den Speisen, es gab drei verschiedene Majonaise-Salate, Majonaise-Eier, geriebenen Käse mit Butter, Salami, geräuchertes Schweinefleisch, geräuchertes Hühnerfleisch, geräucherter Fisch, scharfe Karotten, noch mehr Käse, Topfenbällchen mit Knoblauch, noch mehr Fisch. Später dann noch eine Hauptspeise, noch später Kuchen und Früchte in Schlagobers. Dazu Sekt, Vodka, Wasser und Kompott zum trinken.
Vovans Schwager Dima und ich waren die einzigen, die sich mit Vodka zuprosteten, nach einer Weile meinte er, dass er stolz auf mich wäre. Ein Kollege hatte mal einen Franzosen zu Gast, der immer nur einen ganz kleinen Schluck auf Höflichkeit trank. Ein Klassiker. In Pridnestrowien ist man erst ein Mann, wenn Vodka trinkt. Vodka und fettes Essen. Fettes Essen und Vodka.

 

Es war ein lustiger Abend, Jelena freute sich über die Gelegenheit, ihr rostiges Deutsch zu verwenden und entschuldigte sich mindestens hundertmal für ihre schlechten Sprachkenntnisse. Gelegentlich vermischte sie die Sprachen und plauderte mit mir in Russisch, worauf alle lachten und noch mehr lachten, wenn ich sie trotzdem verstanden hatte. Nach einem gemeinsamen Spaziergang durch die Stadt und zur Dnester verließ ich die Familie so gegen vier und ging ins Hotel schlafen.
Als ich zu Mittag in Andreys Wohnung zurückkam, völlig übersäuert von Essen und trinken, kam Andreys Vater Nikolai zu mir, stellte Vodka vor mich hin und zwang mich, faschierte Leibchen und Rote-Rüben-Fisch-Majonaise-Salat mit ihm zu essen. Gebt mir bitte einen Kübel.

 

Die übliche Anreise

7Eine der Eigenschaften, die Pridnestrowien zu einem unzugänglichen und geheimnisvollen Land machen ist die Eintrittshürde. Es gibt keinen vorgezeichneten Weg, wie man dieses Land bereist. Und es ist nicht gerade so einfach hierher zu kommen, wie nach Lignano an der Adria. Dank des günstigeren Fluges habe ich mich entschieden, zum ersten Mal über Odessa, Ukraine in Pridnestrowien einzureisen. Der Flug mit Ukraine International Airlines ist schnell und bequem, am Flughafen wartet Dima, unser Taxifahrer, es dauert eine Stunde, bis man an der Grenze steht. Tja. Nur welche Grenze? Der Ort heißt Pervomaysk. Auf der östlichen Seite ist die Ukraine, die Grenzbeamten sind mürrisch, prüfen jedes Auto, die Abfertigung dauert kurz vor Neujahr 40 Minuten. Soweit so einfach. Aber was ist auf der anderen Seite? Offiziell ist das Moldau, aber es gibt keine Moldauische Grenzbeamten und keine Einreiseformalitäten. Inoffiziell aber faktisch ist es Pridnestrowien. Zuerst bleibt keine Zeit zum Nachdenken. Formelles will erledigt werden.

Dies ist kein Grenzübergang, den westliche Ausländer benutzen. Dementsprechend ratlos sind die Beamten, wollen mich zuerst abweisen, drücken mir aber ob meiner Beharrlichkeit das Einreiseformular in die Hand. Ich bringe die ganze Grenze durcheinander, da ich mir einen Kugelschreiber ausborgen muss und kein Beamter einen übrig hat. Ich fülle das Formular aus, die Beamtin kann meine lateinische Schrift nicht lesen. Dima füllt ein zweites Formular auf kyrillisch aus. Dazwischen anstellen, warten, vordrängeln. Das alles im Freien, am Abend, im Winter. Zu meiner Überraschung lassen sich mich durch, ohne Eintrittsgeld zu verlangen. Wir fahren nach Tiraspol. Es ist seltsam, ich bin offiziell in Pridnestrowien eingereist, befinde mich jedoch genauso offiziell auf moldauischem Territorium, nur dass mein Pass keinen moldauischen Eintrag enthält. Ich bin also illegal in Moldau und legal in der PMR. Ach ja, und die Pridnestrowier haben mich nur einreisen lassen, weil ich ein offizielles Visum für Moldau habe. Verwirrend.

Die nächste Hürde ist die Registrierung, auszufüllen am Aufenthaltsort auf einem Amt, dass man nur kennt, wenn man schon mal dort war. Und vorher eine Registrierungsgebühr auf einer Bank hinterlegt hat. Natürlich ist es nach fünf Uhr. Die Registratur ist schon geschlossen. Aber immerhin habe ich 24 Stunden Zeit. Andrey treffen, Wiedersehensfreude, Häuslich einrichten, Quatschen, Schlafen, etc.

Der folgende Tag ist ein Samstag, die Registratur hat nur Wochentags offen. Aber es gibt, versteckt in der Uliza Lenina eine weiteres Amt, bestehend aus einem Fenster in einem gewöhnlichen Haus. Es ist kurz vor Neujahr, dutzende Russen-auf-Besuch schreiben handschriftlich Registrierungsansuchen und versuchen damit, von den Beamten hinter diesem Fenster eine temporäre Registrierung bis Montag zu erhalten um dann nach dem Wochenende eine korrekte Registrierung durchzuführen. Anstatt uns anzustellen gehen wir essen. Am frühen Abend, die 24 Stunden sind fast abgelaufen, schauen wir wieder vorbei. Es stehen noch mehr Menschen in der Kälte. Nach wenigen Minuten tritt ein Mann aus einer Tür und verkündet, dass die Regierungsstelle verlautbart hat, jene Ausländer, die nur bis zum 10.1. blieben, können dies ohne Registrierung tun, während jene, die länger blieben, weiterhin den Registrierungsprozess durchzuführen hätten. Der Mann wurde von jenen, die nachträglich umsonst gewartet hatten, beinahe gelyncht.

Verfassungs-Boxkampf

Beim Stöbern im Web fand ich ein Lied von Björk, dass sie sicherlich nach einem Besuch in Transnistrien geschrieben hatte. Es geht so:

Start your own currency
Make your own stamp
Protect your language

Declare independence
Don›t let them do that to you

Dafür ist heute der Tag der Verabschiedung der transnistrischen Verfassung. Eines der wichtigsten, staatstragenden Dokumente der Nation ohne Anerkennung. Gleichzeitig findet heute ein Treffen von ausgesuchter Seltenheit, symbolhafter Wichtigkeit und faktischer Folgenlosigkeit statt. Der Präsident der anerkannten Republik Moldau, trifft den Präsidenten der abtrünnigen Republik Transnistrien, Igor Smirnow. Ein mediales und diplomatisches Treffen um den Friedens- und Wiedervereinigungsprozess der beiden Länder wieder in Gang zu bringen. Das Treffen findet in Tiraspol statt, im Palast der Pioniere, Dutzende Medienvertreter belagern den quadratischen Tisch, an dem die Präsidenten Platz nehmen, flankiert von jeweils zwei stummen Ministerpuppen, die wichtig dreinblicken, aber nicht mal ein Mikrofon erhalten. Der Moldauer sieht aus wie ein ehemaliger Boxer und Pizza-Restaurant-besitzender Mafioso. Smirnow, sein Gegenpart wirkt wie ein Schauspieler, der auf Vater-Rollen abonniert ist und den zweiten Preis beim regionalen Lenin-Look-alike-Contest gewonnen hat.
Das Treffen ist geprägt von gegenseitigen Beschuldigungen, sonderlich diplomatisch geht’s hier nicht zu. Andrey übersetzt ein bisschen. Ich plaudere mit der Leiterin von Radio PMR und Andrey stellt uns ganz zwanglos dem Informationsminister vor. Schließlich, so Andrey, müsse es ob unseres Bekanntheitsgrades ja auch für den Minister eine Ehre sein, uns die Hand zu schütteln. Ich tät ja drüber lachen, aber gestern hat Andrey uns ein zehnminütiges Feature gezeigt, das im transnistrischen Fernsehen lief. Darin geht es um das Buch, Andrey wird ausführlich interviewt, Kramar plaudert am Telefon, die Kameras besuchen die Protagonisten des Buches und fragen sie nach dem Gefühl, Teil dessen zu sein.
Nach einer Weile ist der präsidiale Spuk vorbei. Das interessanteste war eine russische Formulierung, um dem Gegenüber vorzuwerfen, er würde ständig Ausreden haben: „Sie werfen dauernd mit kleinen Hündchen.